1949 schieb Herman Hesse an einen Freund:
»Lieber J. K.
Danke für Deinen Neujahrsbrief. Er ist traurig und deprimiert, und ich verstehe das nur allzu gut. Aber es steht auch der Satz darin, daß Du unter dem Gedanken leidest, es sei Dir und Deinem Leben ein Sinn, eine Aufgabe zugeteilt, deren Nichterfüllung Dich leiden mache. Das ist, trotz allem, hoffnungsvoll, denn es ist wörtlich wahr, und ich bitte Dich, meine paar Anmerkungen dazu Dir je und je ins Gedächtnis zu rufen und zu überlegen.Diese Gedanken sind nicht von mir, sie sind uralt, und sie sind etwas vom Besten, was Menschen je über sich selber und ihre Aufgabe gedacht haben.
Was Du im Leben leistest, und zwar nicht nur als Künstler, sondern ebenso als Mensch, als Mann und Vater, Freund und Nachbar etc., das wird vom ewigen „Sinn" der Welt, von der ewigen Gerechtigkeit nicht nach irgend einem festen Maß gemessen, sondern nach Deinem einmaligen und persönlichen. ...
„Bist Du ein Hodler geworden, oder ein Picasso, oder ein Pestalozzi oder Gotthelf?"
Sondern ...: „Bist Du auch wirklich der J. K. gewesen und geworden, zu dem Du die Anlagen und Erbschaften mitbekommen hast?"
Und da wird niemals ein Mensch ohne Scham oder Schrecken seines Lebens und seiner Irrwege gedenken, er wird höchstens sagen können: „Nein, ich bin es nicht geworden, aber ich habe es wenigstens nach Kräften versucht."
Und wenn er das aufrichtig sagen kann, dann ist er gerechtfertigt und hat die Probe bestanden.« 1
- 1E. von Wedel, Herman Hesse, Wichern-Verlag, Berlin 2011